Manche Konstellationen sind
auf Anhieb künstlerisch
überzeugend

Nordwalde Orgel und Sirene

von Lis Schröder, Medienkünstlerin

Manche Konstellationen sind auf Anhieb künstlerisch überzeugend, auch wenn sie nicht als Kunst gedacht sind. So wie in diesem Fall.

Los geht’s mit einer Art Atem, einem tonlosen Hauch. Ein hoher Orgelton setzt ein und damit auch eine Raumvorstellung, okay, Kirche, jetzt ein zweiter Ton, tiefer ansetzend, was ist das, klingt erst wie ein Streichinstrument, schwingt sich dann im Glissando höher hinauf, stabilisiert sich auf Fis, beide Töne klingen zusammen. Der erste Ton scheint sich aufzulösen, der zweite bleibt und schwillt in eine so umfassende Präsenz, dass es kein Entkommen mehr gibt. Er lässt den Raum komplett hinter sich, ist neben einem, um einen, in einem und scheint zugleich im Stereofeld ein wenig zu pulsieren und zu wandern. Nach dem Ende des Tons ein kurzer, wie schleudernder Nachklang. Dann Stille. Der Vorgang wiederholt sich. Zum Schluss erklingt der Ton noch einmal, ohne Glissando, einfach und klar.

Das gelegentliche Poltern im Raum ist hilfreich. Denn es bricht die Hyperintensität des Tones ein wenig und beschneidet dessen Macht. Trotz meines privaten Hangs zur Immersion sage ich: Wenn es kein Außen mehr gibt zu einem ästhetischen Phänomen, wenn ich keinen Schritt mehr zurücktreten kann, wenn es mich von allen Seiten umschließt, ist Vorsicht geboten. Jeglicher Überwältigungsästhetik ist mit einem gewissen Maß an Skepsis zu begegnen. Nicht zuletzt, wenn sie einem in der Kirche begegnet.

Die Sache ist bloß: Um Ästhetik geht es hier eigentlich erstmal nicht. Eine Orgel wird gestimmt und klingt dabei wie eine Sirene. Und ein Sirenenton wiederum ist gerade dafür gemacht, alles zu durchdringen, damit man ihm nicht entkommen kann.

Eine Wiederbesinnung auf die Sirene, lese ich später, habe mit den multiplen Katastrophen der frühen Zweitausendzwanzigerjahre eingesetzt: Pandemie, Flutkatastrophe im Ahrtal, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Nach dem Ende des Kalten Krieges hatte man die Sirenensysteme in Deutschland größtenteils rückgebaut, man hielt dieses Warnsystem für überflüssig und veraltet. Mittlerweile gibt es ein deutschlandweites Sirenenförderprogramm, das den erneuten Ausbau des Sirenennetzes fördert.

Ich denke kurz an entweihte, umfunktionierte Kirchen und frage mich, wohin eigentlich die Orgeln solcher Kirchen verschwinden, und ob sie irgendwann zurückkehren werden wie die Sirenen.